Lässt sich das Fahrrad noch einmal revolutionieren? Wenn es nach dem Willen einer jungen Firma aus der Region Stuttgart geht, lautet die Antwort eindeutig: ja. Zwei leidenschaftlichen Bikern und Ingenieuren verdarb die klassische Kettenschaltung oft genug den Fahrspaß beim Mountainbiken. Deshalb entwickelten sie das erste Fahrradgetriebe der Welt, das nach Automobilstandards in Serienreife produziert wird.

Die jungen Ingenieure Christoph Lermen und Michael Schmitz lernten sich während des Studiums beim Sportwagenhersteller Porsche kennen. In dem inspirierenden Umfeld von Hochschule, Entwicklung von automobilem Hightech und privater Bike-Begeisterung reifte gemeinsam die Idee, Techniken und Qualitätsstandards aus dem Automotive-Engineering auf die herkömmliche Fahrradschaltung zu übertragen. „Statt zeitraubender Pflege und Wartung kamen wir zu der Überzeugung, dass es eine bessere Schaltungslösung für Fahrräder geben muss“, erzählt Schmitz.

Herausgekommen ist dabei das erste Fahrradgetriebe der Welt, das nach Automobilstandards in Serienreife produziert wird. „Mit dem P1.18-Getriebe haben wir kein einzelnes Produkt, als vielmehr eine neue Basistechnologie entwickelt“, erläutert Lermen den Ansatz der beiden Existenzgründer. Das Unternehmen ist eigenkapitalfinanziert und der finanzielle Aufwand hoch. Laut Lermen lagen die Entwicklungskosten für das Getriebe im siebenstelligen Euro-Bereich und ein Prototyp kostet immerhin bis zu 30.000 Euro. Gegründet wurde das Unternehmen im Jahr 2008. Die Idee dazu entstand aber schon 2006. Mittlerweile tüfteln sieben Mitarbeiter und die zwei Chefs – eine junge Crew – weiter an ihrer wegweisenden Idee.

Zahnradübersetzungen sind nichts Neues. Die kannte schon Aristoteles. Da Vinci entwarf derer gleich Hunderte. Leistungsstarke Industriegetriebe gibt es seit den Tagen der Dampf­maschine, und selbst das moderne Stirnradgetriebe ist bereits seit Kaisers Zeiten Standard in der Fahrzeugtechnik. Neu an den Pinion-Radgetriebe ist, „dass es uns gelungen ist, ein Stirnradgetriebe mit zwei hintereinander geschalteten Teilgetrieben und 18 gleichmäßig abgestuften Gängen kompakt und leicht zu konstruieren“, erklärt Lermen. Auf diese Weise wird das Getriebe nahezu dauerhaft haltbar und wartungsfrei, versprechen die beiden Ingenieure.

Get the Flash Player to see the wordTube Media Player.

Da alle Teile in einem feinen, kleinen Gehäuse gut geschützt eingekapselt und zentral im Fahrradrahmen integriert sind, ist das Pinion-Radgetriebe eine Alternative zur Kettenschaltung, der letzten technischen Schwäche am Fahrrad. Nabenschaltungen bieten zwar eine Alternative, „deren ungünstige Massenverteilung und der in einigen Gängen deutlich spürbare Kraftverlust sind unserer Vorstellung von Fahrdynamik, Handling und sportlichem Einsatz aber zuwider“, erklärt Schmitz die Entscheidung für den klassischen Getriebeaufbau. Im letzten Jahr sind die ersten Pinion-Getriebe ausgeliefert worden und die Liste renommierter Fahrradhersteller, die die technische Weltneuheit Made in der Region Stuttgart in ihre Modelle eingebaut haben, ist beeindruckend: Staiger, Patria, Koga, Nicolai und Endorfin sind nur einige Marken, die auf diese Entwicklung setzen.

Ein cleveres Schaltgetriebe

Berechnungen mit Kisssoft

Das P1.18-Getriebe von Pinion verfügt über 18 voll nutzbare Gänge, wobei im Aluminiumgehäuse zwei hintereinandergeschaltete Stirnradsätze enthalten sind: Die eine mit drei Übersetzungsstufen ist grob abgestuft (analog zu den vorderen Kettenrädern bei der Kettenschaltung), diejenige mit sechs Übersetzungsstufen ist fein abgestuft (analog zur Kassette bei der Kettenschaltung). Die 18 Gänge ergeben sich ohne Überschneidungen durch Multiplikation der beiden Gangstufen. Das Gesamtübersetzungsverhältnis beträgt 634 Prozent, was dem Übersetzungsverhältnis eines Profi-Mountainbikes entspricht.

Dieser Schaltmechanismus bietet aufgrund der 18 unterschiedlichen Übersetzungsverhältnisse weitere Vorteile: Das Hochschalten ist unter voller Last möglich – für das Herunterschalten muss ähnlich zu anderen Systemen die Trittkraft reduziert werden. Anders als bei der Kettenschaltung wird hier auch das Schalten im Stand möglich. Alle 18 Gänge lassen sich über einen Drehgriffschalter am Lenkrad in weniger als einer Umdrehung durchschalten. Der Fahrer kann so bei Bedarf mehrere Gänge mit einem Handgriff schalten. In jedem Fahrzustand und auch während des Schaltens ist ein Gang eingelegt – womit auch das Leertreten wegfällt und das Verletzungsrisiko sinkt.

Als Berechnungsprogramm für das Getriebe setzte Pinion auf Kisssoft. Kisssoft bietet neben dem eigentlichen Festigkeitsnachweis nach Normen eine Fülle an weiteren Funktionalitäten, welche den Konstrukteur während seines gesamten Konstruktionsprozesses unterstützen. Der Weg von einem Pflichtenheft zu einem fertigen Getriebe enthält nach einer ersten Dimensionierung die Auslegung der optimalen Verzahnungsdaten. Die Festigkeit der Verzahnung ist dabei eine Grundanforderung, eine Verzahnung muss demnach die geforderte Lebensdauer erfüllen – sei es im Hinblick auf Fußbruch oder Flankentragfähigkeit. Die zu erreichende Sollsicherheit wird in der Praxis, solange keine eigenen Werte vorliegen, häufig mit SFmin = 1.4 (für Fußbruch) oder SHmin=1.0 (für Flankenfestigkeit) festgelegt. Aufgrund von verschiedenen Einflüssen wie falschen Lastannahmen oder kleinen Verzahnungsmodulen kann die Sollsicherheit höher oder niedriger ausfallen als zuerst angenommen. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, bietet Kisssoft dem Konstrukteur die Möglichkeit, seine eigenen – beispielsweise in Prüfversuchen ermittelten – Sollsicherheiten in der Berechnung zu hinterlegen, und anschließend basierend auf diesen Werten eine optimierte Auslegung zu erhalten.

In der Auslegungsphase sind für den Konstrukteur meistens verschiedene Verzahnungsparameter (wie Zähnezahlen oder Profilverschiebung) frei wählbar, während andere (beispielweise Übersetzung oder Bauraum) vorgegeben oder innerhalb enger Grenzen einzuhalten sind. Mit der Feinauslegung in Kisssoft ist die Möglichkeit vorhanden, die Makrogeometrie eines Stirnradpaares in einem sinnvollen Rahmen zu variieren und über die sich ergebenden Zwischenwerte alle möglichen Kombinationen rechnen zu lassen. Um im Hinblick auf die spätere Ferti­gung der Verzahnungen diejenigen Lösungen auszuschließen, für welche keine Werkzeuge vorhanden sind, kann in der Feinaus­legung eine zu verwendende Werkzeugliste (Fräserliste) hinterlegt werden. Die Feinauslegung bietet dem Konstrukteur sehr viele Lösungen, welche zur besseren Übersicht grafisch oder numerisch angezeigt sowie verglichen werden können. Insbesondere die Grafik ermöglicht eine schnelle Abschätzung der Wertebereiche, und häufig sind neben den zu erwartenden Resultaten auch überraschende Lösungen dabei, welche erst aufgrund der aufwendigen Kombinationsrechnung ersichtlich werden.

Neben der Festigkeit werden auch sehr viele weitere Kriterien wie Wirkungsgrad, Gewicht und auch Drehwegabweichung (aus der Kontaktanalyse) ersichtlich. Diese helfen dem Konstrukteur, die für seinen Fall passende Lösung zu finden.

Im Anwendungsfall des Schaltgetriebes von Pinion war eine geräuschoptimierte Verzahnung gefordert und somit auch eine optimierte Makrogeometrie der Verzahnung hinsichtlich Ruhiglauf. Mit der Kisssoft-Feinauslegung wurde über eine kombinierte Hoch- und Schrägverzahnung eine passende Überdeckung erreicht, welche gemäß der Theo­rie der minimalen Eingriffssteifigkeitsschwankung bereits eine minimale Geräuschanregung nach sich zieht. Eine spätere Optimierung der Mikrogeometrie über Profilkorrekturen und Flankenlinienkorrekturen wurde dann unter Berücksichtigung der Wellendurchbiegungen und Lagernachgiebigkeiten durchgeführt und mit der Kontaktanalyse verifiziert.
Nach Abschluss der Auslegung und Festlegung der Korrekturen folgt im Konstruktionsprozess häufig der Anspruch, die Fertigung genauer zu betrachten und die Anzahl der Werkzeuge zu reduzieren. Dazu bietet Kisssoft die Möglichkeit, mit den tatsächlichen Werkzeugen über verschiedene Fertigungsschritte eine Analyse durchzuführen und die resultierende Verzahnungsgeometrie zu prüfen. Von Interesse ist dabei beispielsweise der resultierende Formkreis aus der letzten Bearbeitung, aber auch der Erhalt entsprechender Kontroll- und Prüfmasse. Da Kisssoft die tatsächlichen Werkzeuggeometrien verwendet, werden auch überschneidende oder teilüberschneidende (semi topping) Werkzeuge berücksichtigt.

Laut Lermen werden Fahrräder mit Pinion-Getriebe zwischen 2500 und 5000 Euro angeboten – nach oben sind fast keine Grenzen gesetzt. Mittelfristig wollen die Schwaben aber auch günstigere Getriebe anbieten, um den Anteil ihrer Produkte am gesamten Fahrradmarkt zu erhöhen. Immerhin werden hierzulande jährlich etwa vier Millionen Fahrräder verkauft. Im Vergleich dazu: 2012 wurden laut einer Statistik des Kraftfahrt-Bundesamtes in Deutschland 3,08 Millionen neue Personenkraftwagen für den Straßenverkehr zugelassen – ein Viertel weniger.

Erst letztes Jahr sind die Existenzgründer von Stuttgart auf die Fildern nach Denkendorf umgezogen. Dort läuft seit Juli 2012 im neuen Werk die Produktion und Auslieferung auf Hochtouren. Das Pinion-Getriebe wurde zuvor im eigenen Prüflabor eingehend getestet, so dass ein Höchstmaß an Qualität und Zuverlässigkeit gewährleistet ist. „Wir testen auf dem gleichen hohen Niveau und mit den Prüfstandards, die auch in der Automobilindustrie angewendet werden,“ versichert Schmitz. Wer also demnächst mit einem neuen Pinion-Getriebe-Bike auf dem Trail unterwegs ist, kann sicher sein, dass er dabei kein Versuchskaninchen sein wird, sondern ein dauerhaft haltbares Produkt erhält, auf das Verlass ist. Wer davon allein nicht überzeugt ist, lässt sich womöglich davon beeindrucken, dass Extrembiker Felix Fröhlich 2010 mit einem Pinion-Getriebe-Prototypen den Himalaya durchquert hat. Probleme? Keine.

Bei der letztjährigen Messe Eurobike und dem Eurobike Demo­day haben zwölf Fahrradhersteller von Mountainbikes, Trekking- und Urban-Bikes bis hin zu E-Bikes ihre neuen Modelle mit Pinion-Antrieb präsentiert. „Die Reaktionen waren wie schon im letzten Jahr sehr positiv“, berichten die Geschäftsführer einhellig. „Weitere Fahrradhersteller wollen ihre Bikes auf unsere Getriebe abstimmen und ausrüsten.“ Einen schicken Katalog haben die Jungunternehmer auch schon herausgebracht. Darin zeigen sie neben Details der Getriebetechnik auch die Fertigung, erläutern die Testverfahren und lassen die Fahrradliebhaber hinter die Kulissen schauen.

Autor: Astrid Schlupp-Melchinger, freie Journalistin, für die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart

Sie möchten gerne weiterlesen?