Siemens stellte auf der Hannover Messe 2013 mit den „Integrated Drive Systems“ (IDS) eine neue

Siemens stellte auf der Hannover Messe 2013 mit den „Integrated Drive Systems“ (IDS) eine neue Dimension für die Lösung von Antriebsaufgaben vor.

Neu und ganz anders denken, das war auch in der Industrie immer wieder gefordert. Der Einsatz von Dampfmaschinen ab den 1770er-Jahren oder der Wegfall der Königswelle ab den 1970er-Jahren sind prominente Beispiele. Etwas Ähnliches will nun Siemens mit der Idee eines integrierten Antriebsstrangs erreichen. antriebspraxis hat dem Konzept einmal auf den Zahn gefühlt.

Sehr wichtig scheint Siemens das „S“ am Ende zu sein. Das neue Kürzel „IDS“ steht nämlich nicht für Integrated Drive System, sondern für Integrated Drive Systems. Nicht ein integriertes Gesamtsystem ist es, mit dem Siemens den Antriebstechnikmarkt revolutionieren will, sondern mehrere verknüpfte Systeme. Gleich in drei Ebenen wolle man Antriebstechnik integrieren, führt Ralf Michael Franke aus. Franke ist der CEO für Siemens‘ Drive-Technologies-Division.

Wer nun den Begriff „revolutionieren“ für eine typisch marketinglastige Übertreibung halten will, der hat nicht die Begeisterung und Ernsthaftigkeit in den Augen des obersten Antriebsspezialisten bei Siemens gesehen. Entsprechend gewichtig sind die Worte, die in Verbindung mit dem neuen System fallen: Ein „ganz neuer Aspekt der Integration“, ein „Kulturwandel“ sowohl bei Siemens, als auch bei OEMs und Endkunden, ein „Paradigmenwechsel bei Anbietern und Anwendern“, die Sicht auf Antriebssysteme werde sich „grundlegend ändern“, so Franke.

Horizontal, vertikal und über die Zeitachse

Getriebelose Antriebssysteme

Getriebelose Antriebssysteme für Erzmühlen in der peruanischen Kupfermine von Xstrata.

So viel überzeugend vorgetragener Pathos macht neugierig. Die erste Frage muss also sein: Was sind Integrated Drive Systems? Sind sie ein Produkt, das man einfach kaufen kann, sind sie ein System, ein Lösungsansatz, über den man mit Applikationsingenieuren diskutieren muss? Oder eine Software, die man installieren kann? Um sich dem avisierten Paradigmenwechsel zu nähern, empfiehlt es sich, das Problem in guter Ingenieurstradition in Segmenten zu betrachten. Was soll hier eigentlich integriert werden?

Der erste Aspekt der Integration ist die horizontale Antriebsebene. Siemens nutzt verstärkt die Tatsache, dass mit Flender auch ein veritabler Hersteller mechanischer Antriebstechnik im eigenen Portfolio ist. So kann Siemens vom Frequenzumrichter über Motoren und Kupplungen bis hin zu Getrieben alle Komponenten anbieten – laut Franke in dieser Vielfalt sogar als einziger Antriebsanbieter weltweit. Das Ganze kann sinnvoll aufeinander abgestimmt und hoch integriert als Paket verfügbar angeboten werden.

Das ist schön, aber noch nicht wirklich revolutionär neu. Deshalb bieten Integrated Drive Systems noch einen weiteren Aspekt der Integration: die vertikale. Hier geht es vor allem um die Informations- und Kommunikationsebene. Auch dieser Part ist bei Siemens nicht neu. Er nennt sich „TIA“ (Totally Integrated Automation) und ermöglicht es, über unterschiedliche Tools wie das TIA-Portal, das Antriebssystem in die gesamte Automatisierungsumgebung zu integrieren. Und das von ganz unten bis ganz oben, von der Feldebene bis hinauf ins Scada- und MES-System.

Vertikalmühlenantrieb Flender EMPP

Der Vertikalmühlenantrieb Flender EMPP.

Da auch dieser Aspekt vielen Ingenieuren bekannt sein dürfte, beinhalten die Integrated Drive Systems noch eine dritte Ebene der Integration: die entlang der Zeitachse, entlang des Lebenszyklus‘ einer Maschine. Angefangen bei Planung, Engineering und Design einer Maschine oder Anlage, über den Betrieb und die kontinuierliche Verbesserung während der Laufzeit, bis hin zu Wartung und Modernisierung oder Recycling – umfangreiche Software-Tools sowie ein komplettes Service-Portfolio decken alle Phasen ab.

Erst im Kopf entsteht die Revolution

Zugegeben, das hört sich ganz nett und auch ein Stückweit nach Industrie 4.0 an. Aber so recht nach Revolution, Paradigmenwechsel oder ganz neuen Aspekten klingt es noch nicht. Was ist denn nun der Clou an den IDS, den Integrated Drive Systems? Den Clou entdeckt man tatsächlich erst, wenn man sich tiefer auf das Konzept einlässt.

Hier hilft vielleicht ein Vergleich: Das Internet, wie wir es heute kennen, ist ja auch weit mehr, als nur die physikalische Vernetzung dezentraler Rechner und Rechenzentren und die Nutzung von Browser-Software, um HTML-Code auf Bildschirme zu bringen. Das Internet ist über den technischen Aspekt hinaus eine neue Art, Wissen zu managen und Handel zu treiben: eine Revolution.

Effizienter durch Integration in Engineering und Betrieb

Ähnlich sieht es mit den Integrated Drive Systems aus. Sie ermöglichen es, wenn man sich vom klassischen Silo-Denken – Produktentwicklung, Produktionsplanung, IT – einmal löst, neue Potenziale zu nutzen. Denn zum einen haben die IDS das Erfahrungswissen der Ingenieure in der Engineering-Umgebung integriert. „Der Ingenieur hat schon zu Beginn ein Erfolgserlebnis, wenn der die perfekt aufeinander abgestimmten Komponenten im TIA-Portal über Copy, Paste and Place in einer Simatic konfiguriert und sofort ein absolut effizientes und optimiertes Ergebnis erhält“, erklärt Franke. „Dabei ist er, wie uns Kunden bestätigen, bis zu 40 Prozent schneller als mit anderen Systemen.“

“Ein neuer Blick auf die Antriebstechnik”

KurzInterview: Ralf Michael Franke, CEO Siemens Drive Technologies

antriebspraxis: Was ist an den IDS so neu?
Neu ist ein unpassender Begriff, es ist eigentlich die evolutionäre logische Weiterentwicklung der Betriebsvorteile unserer Antriebskomponenten im Zusammenspiel unter dem Total-Integrated-Automation-Gedanken. Wir sind der einzige Anbieter weltweit, der das komplette Antriebsstrang-Portfolio in einer Hand hat. Und wir sind damit auch der Einzige, der aus der gesamtheitlichen Anforderung des Kunden ein gesamtheitliches Antriebskonzept erstellen kann. Worauf wir jetzt besonders stolz sind, ist, dass wir neben den Hardware-Produkten auch die Softwarefunktionalität des Engineering haben. Und damit meine ich nicht nur das Engineering der Automatisierung, sondern auch der Produkt­entstehung. Auf diese Weise entwickelt sich ein ganz neuer Aspekt der Integration der Antriebstechnik.

Ralf Michael Franke

Ralf Michael Franke arbeitet seit 1985 bei Siemens. Seit April 2011 steht er der Siemens-Division Drive Technologies als CEO vor.

antriebspraxis: Wie meinen Sie das genau?
Sehen Sie, in dem Beziehungswissen zwischen dem, was ein Produktdesigner auf der einen Seite macht und ein Automatisierungsdesigner in der Produktionsplanung für dieses Produkt auf der anderen Seite, kann ich ja, wenn ich das dynamische Verhalten meines Antriebstrangs kenne, schon im Engineering das Gesamtverhalten der Maschine, die dieses Produkt einmal produziert, berücksichtigen. Dann habe ich eine ganze Kette geschlossen und bekomme ein völlig neues Niveau von Produktivitätssteigerungen für den Kunden generiert.

antriebspraxis: Aber braucht es dafür IDS? Soll nicht ein Ingenieur genau das machen, egal von wem er die Komponenten hat?
Natürlich können Sie so etwas auch mit Best-off-Breed-Kombinationen machen. Aber zum Einen sind die Siemens-Produkte auch allein konkurrenzfähig. Und zum Anderen, diese sehr schlauen Ingenieure, die dann über die unterschiedlichen Schnittstellen hinweg daraus eine konsistente Lösung machen können, die können Sie an einer Hand abzählen. Genau dieses Beziehungswissen solcher intelligenten Ingenieure ist in den Integrated Drive Systems intrinsisch enthalten. Sowohl in den Produkten, im Engineering der Produkte, als auch in der Simulation der Produktentstehung und der Anlage. Das heißt, der Kollege, der einen Antriebsstrang in eine Produktionsmaschine integriert, weiß über das Engineering mit integrierten Antriebseigenschaften automatisch, wie er mechanische Instabilitäten der Maschine, die er aus der dynamischen Simulation enthalten hat, mit einer intelligenten Antriebsparametrierung kompensieren kann.

antriebspraxis: Wenn Sie sich ein kleines Ingenieurbüro vorstellen oder die Entwicklungsabteilung eines Mittelständlers: Wie schnell, glauben Sie, lassen sich derartige neue Denkweisen dort umsetzen?
Ehrlich gesagt: die Kleinen sind gar nicht mal ein Problem. Die sind agil und in der Adaption solcher Paradigmenwechsel viel schneller. Da haben Sie nicht diese strikte Funktionsteilung, diese Zuordnung und Trennung nach Abteilungen. Die kennen sich alle, die wissen, was jeder Einzelne weiß. Aber die Kleinen allein können die Welt nicht verändern. Das tun die Großen, an denen die Kleinen dranhängen. Insofern sind für mich die Großen die Adressaten – also die Volkswagens, die Lindes, die Mercedes dieser Welt. Mit denen gemeinsam müssen wir Impulse geben, damit die Idee hinunter wandert in die Gesamtzulieferkette. Dann kann der Gedanke der Integration seine Stärken ausspielen. wk

Engineeringkosten machen aber nur rund drei Prozent der Lebenszyklus-Gesamtkosten eines Antriebssystems aus. Daher ist vor allem für den Endanwender die dritte Ebene der Integration sehr interessant: Denn in dem Moment, in dem der Ingenieur auf das Beziehungswissen des integrierten Antriebssystems zurückgreifen kann, kann er auch eine energieeffizientere Lösung bauen. Beispielsweise kann durch die Simulation in der digitalen Fabrik analysiert werden, welche Charakteristik, Stärken und Schwächen die Applikation hat, und der Konstrukteur weiß, welche Lastkurven und zeitlichen Abläufe auftreten und zu optimieren sind. „Auf diese Weise habe ich meine Hand um 97 Prozent der Kosten“, erklärt Franke, „und die kann ich dann gezielt im Engineering reduzieren.“

Dieser Vorteil wirkt sich vor allem für den Endanwender aus. Denn die meisten Maschinen stehen ja nicht alleine. Sie sind Teil einer Gesamtanlage. Heute weiß der einzelne OEM oft gar nicht genau, wie diese Gesamtanlage aussieht, vor allem wenn er nur einen kleinen Teil, wie etwa eine Förderstrecke, zuliefert. Durch das Antriebssystem integriert im Engineeringsystem erhält der Kunde klare Vorgaben, er kann die Gesamtanlage schon vom Start weg auf einem ganz anderen Niveau der Reife aufsetzen. Die Produktivität der Anlage, der Gesamtmaschine, kann so von Beginn an deutlich höher sein.

Hinzu kommt: Mit IDS kann man einen digitalen Fingerprint der realen Anlage erstellen. Dieser lässt sich über den gesamten Lifecycle in der virtuellen Welt simulativ optimieren. Die Gesamtmaschine ist im Rechner. Über ein Condition Monitoring können Daten aus der realen Maschine jederzeit in die virtuelle Maschine übertragen oder verglichen werden. Die ganze Anlagenoptimierung kann dann simulativ in der virtuellen Welt ablaufen. Ist ein neuer, optimierter Betriebsmodus für den Antriebstrang gefunden, kann die neue Auslegung automatisch über das Engineeringsystem in die Anlage übertragen werden. Komponenten des integrierten IDS-Portfolioansatzes sprechen dieselbe Sprache und haben eine einheitliche Datenbasis. Eine Datenübertragung kann somit schnell und vor allem fehlersicher laufen.

Simogear-Getriebemotorenreihe

Die neue Simogear-Getriebemotorenreihe bietet harmonisierte Baugrößenstufung und hohe Leistungsdichte.

Das gleiche Spiel kann der Maschinen- und Anlagenbetreiber natürlich auch nutzen, wenn die Anlage auf ein neues Produkt eingerichtet werden soll oder ein Retrofit ansteht. Komplett integriert und digital lassen sich neue Maschinenteile hinzufügen und vorhandene Antriebe an die neue Situation anpassen.

So viel Integration, wie der Kunde benötigt

Keiner muss Integrated Drive Systems kaufen, das ist Ralf Michael Franke wichtig. Jeder Kunde kann bei Siemens weiterhin einfach nur ein Getriebe, einen Umrichter oder einen Motor kaufen. „Die einzelnen Produkte müssen auch für sich jederzeit benchmarkfähig sein“, betont Franke. Das integrierte Konzept ist auch nichts, was die einzelnen Geräte teurer macht. Jeder Kunde kann selber entscheiden, wie viel er vom integrierten Antriebssystem haben will. Ob er einfach aufeinander abgestimmten Komponenten will, ob er zusätzlich die passende und auf die Produkte zugeschnittene Engineering-Umgebung will oder ob er tatsächlich den gesamten Lifecycle samt Simulation von Produkt und Produktion dabei haben möchte.

Dass in den Integrated Drive Systems die Zukunft liegt, da ist sich Siemens-CEO Franke sicher: „Wenn man die Systeme weiter optimieren will, reicht das Polieren der Asymptote nicht mehr aus. Die nächste S-Kurve der Produktivitätssteigerung kann man nur mitnehmen, wenn man einen ganzheitlichen Ansatz wählt und einen Kulturwandel auch in der Sicht der Antriebstechnik zulässt.“ Wer in den Integrated Drive Systems jetzt immer noch eher einen evolutionären Ansatz sieht als einen revolutionären, der hat einerseits recht: Siemens betreibt diese Integration schon seit Jahren. Andererseits sind mittlerweile so viele wichtige Meilensteine erreicht, dass wir alle in zehn Jahren rückblickend von einer Revolution sprechen werden. Wetten?

Autor: Wolfgang Kräußlich, Leitender Chefredakteur

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