Wird jetzt alles digital? Welche Rolle spielen Versuch und Test da noch?

Graf-Goller: Ziel dieser ganzen Methodik ist es, die Versuchsaufwände, die in der Regel sehr teuer sind, so weit wie möglich zu reduzieren. Aber wir sind da ganz realistisch, wir werden den Versuch nie abschaffen. Denn wenn wir neue Berechnungsmodelle aufbauen, dann benötigen wir einen Kalibrierungspunkt. Wir brauchen Ergebnisse aus einem Experiment, um zu wissen, mit diesem Betriebspunkt stimmt das Modell. Ab da bewegt man sich typischerweise in einen Vertrauensbereich für die Modelle. Aber wenn man dann stark abweichende Bedingungen außerhalb des Vertrauensbereichs hat, sollte man per Versuch einen neuen Kalibrierungspunkt setzen. Ein anderes Thema ist die Ermüdungssimulation von neuartigen Werkstoffen. Da sind wir zwar auch dran, eine Strukturermüdung modellbasiert berechnen zu können. Aber da muss man ganz klar sagen, es ist noch Zukunftsmusik, ein wirklich aussagefähiges Ergebnis zu bekommen. Ein Lebensdauerversuch, der Klassiker, wird immer nötig sein, wenn wir einen Werkstoff optimiert haben oder sogar einen komplett neuartigen Werkstoff entwickeln.

Was sind derzeit die größten Innovationshindernisse, wo hängt es?

Dr. Tremmel: Meine Einschätzung aus der Wissenschaft heraus ist, dass es an den grundsätzlichen Entwicklungsmethoden oder an der grundsätzlichen Produktionstechnologie heutzutage nicht mehr scheitert. Entwicklungsschwierigkeiten gibt es bei den Themen Tribologie und Oberfläche, weil diese sich häufig der Simulation ohne Versuch noch entziehen. Wir haben einerseits Reibung, die wir im Lager benötigen, sonst würde das Lager gar nicht funktionieren, das Traktionsvermögen zwischen Laufbahn und Wälzkörpern würde fehlen. Auf der anderen Seite haben wir das Bestreben, die Verluste im Lager, insbesondere die Reibung, so gering wie möglich zu halten. Die Schmierung wiederum ist für die Minimierung von Verschleiß und damit für die Lebensdauer existenziell. Das tribologische Verhalten von Schmierstoffen, gerade bei hohen Drücken, die Schmierstoffchemie, die Verteilung der Schmierstoffe im Lager sind häufig kritische Punkte. Heutzutage nimmt die Viskosität der Schmierstoffe ab. Das führt zu Betriebszuständen, die in die Mischreibung gehen, und da sind hochwertige Oberflächen und auch die Herstellung dieser Oberflächen entscheidend für die Lebensdauer. Ich denke, auch Beschichtungen werden in Zukunft eine größere Rolle spielen, entweder zur Reibungs- oder Verschleißreduktion, um elektrische und thermische Eigenschaften einzustellen oder, was ein wichtiger Punkt in der Zukunft sein wird, um sensorische Zusatzfunktionalitäten ins Lager zu integrieren.

Graf-Goller: Ich würde gerne noch ergänzen, auch wenn ich aus dem Bereich Innovation komme, eine Herausforderung sind die Kosten. Wir haben viele Optionen, die Performance von Lagerungen in einer Anwendung zu steigern, sei es über Schmierung oder Beschichtungen, oder auch mit neuen Werkstoffen. Ein etablierter Stahl wie 100Cr6 ist optimiert und Standard. Mit Werkstoffen, die wir gezielt für besondere Anwendungsfälle entwickeln, oft kombiniert mit speziellen Wärmebehandlungsverfahren, lässt sich die Leistungsfähigkeit eines Lagers enorm steigern. All diese Maßnahmen haben aber ihren Preis.

Sie hatten das Einbringen von Sensorik erwähnt. Wie ist hier der Stand der Dinge? Sind die Lager bereit für Industrie 4.0?

Dr. Tremmel: Das ist noch ein sehr neues Gebiet. Wo da der Weg letztendlich hingeht, können wir im Moment schwer vorhersagen. Da gibt es in der Wissenschaft wie auch in der Praxis noch viele Fragen zu klären. Zum Beispiel welche Messdaten sinnvollerweise direkt am Lager aufzunehmen sind, oder ob es andere Stellen gibt, wo man diese oder analoge Daten genauso gut aufnehmen kann, wo es in der Maschine vielleicht sogar einfacher ist. Dann die Frage, wie die Daten aus der Maschine übertragen werden. Es liegt ja nicht an jedem Lager ein Kabel. Außerdem gibt es Fragen, die über das hinausgehen, was uns Ingenieure im Alltag beschäftigt: Wer besitzt überhaupt die Rechte an den Daten, wer darf sie nutzen? Haben solche Daten überhaupt einen Mehrwert? Wer erzielt den Mehrwert? Ist das der Wälzlagerhersteller, ist das der Anlagenbetreiber, ist das der Kunde des Anlagenbetreibers, ist es vielleicht eine Versicherung? Das sind Punkte, über die man nachdenken muss. Und dann gibt es darüber hinaus natürlich ganz viele Detailthemen: Wie bringt man solche Sensoren kostengünstig an einem Lager an? Auch hier wird das Thema Beschichtungstechnik eine Rolle spielen. Man wird über neue Arten von Sensoren nachdenken müssen.

Graf-Goller: Wir sind schon länger im Bereich intelligenter Lager und strukturbasierter Sensorik, wie Sensorschichten, unterwegs. Erste Serienprodukte sind seit Jahren erfolgreich im Einsatz. Generell ist so ein Lager, das massiv in den Kraftfluss in jeder Maschine eingebunden ist, eine Goldgrube für die Datengewinnung. Unser Haus hat mit dem Sensorlager FAG VarioSense auf der letzten Hannover Messe ein modulares System vorgestellt, mit dem man mehrere Parameter gleichzeitig messen kann, etwa Lasten, Temperaturen oder Drehzahl. Die Daten können für verschiedene Zwecke genutzt werden. Ein wichtiges Thema für den Betreiber von Maschinen und Anlagen ist Predictive Maintenance. Wenn der Kunde mit intelligenten Lagern die realen Lasten aufzeichnen kann, können wir mit geeigneten Algorithmen, die wir aus unseren Berechnungsverfahren kennen, genauere Aussagen zur Restgebrauchsdauer treffen und Wartungsintervalle können optimiert werden. Sie können die Daten aber auch zur Bewertung von Prozessen nutzen und damit zum Beispiel für die Qualitätsüberwachung einsetzen. Wenn wir wissen, was im Betrieb tatsächlich passiert, bietet uns das ganz neue Möglichkeiten.

Schaeffler und Universität Erlangen-Nürnberg entwickeln Hochleistungsprüfstand

In einer Forschungskooperation haben Schaeffler und die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) im vergangenen Jahr einen Wälzlagerschleuderprüfstand entwickelt. Auf diesem werden Lager einer bis zu 3000-fachen Erdbeschleunigung ausgesetzt und unter den resultierenden hohen Belastungen getestet. Insbesondere das Reibungsverhalten von Wälzlagern bei solch hohen Fliehkräften, wie sie auf dem Wälzlagerschleuderprüfstand erreicht werden, ist bisher wenig erforscht. Die Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt sollen die aktuelle Wälzlagertechnologie optimieren mit dem Ziel, Kraftstoff- und Energieverbrauch bei Fahrzeugen und Maschinen zu verringern.

Die Lager drehen sich während des Prüfvorgangs gleich zweimal. Mittels eines offenen Planetengetriebes rotieren die Prüflinge sowohl jeweils einzeln um ihre eigene Achse als auch in ihrer Gesamtheit um eine Zentralachse. Vor allem die Frage, welche Faktoren, wie zum Beispiel die Temperatur, Beschichtungen oder geometrische Details, die Lager unter Extrembelastung beeinflussen, können an dem neuen Prüfstand untersucht werden.

Der massive, 16 Tonnen schwere Prüfstand, der in einem eigenen Prüfbunker auf 22 Quadratmetern untergebracht ist, ist innerhalb von drei Jahren Konstruktions- und Bauzeit entstanden. 900 technische Zeichnungen, 1600 Schrauben und ein Kilometer Kabel waren dafür notwendig.

offenes Planetengetriebe,
Die Lager drehen sich während des Prüfvorgangs gleich zweimal. Mittels eines offenen Planetengetriebes rotieren die Prüflinge sowohl jeweils einzeln um ihre eigene Achse als auch in ihrer Gesamtheit um eine Zentralachse. (Bild: Schaeffler)

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