Als Hidden Champions bezeichnet der Forschungsverbund Fraunhofer Materials die Werkstoffe in einem Positionspapier. Ganz verkehrt ist das nicht. Wer eine technische Neuheit in Händen hält, denkt in den seltensten Fällen an die Werkstoffe, aus der sie besteht. Immerhin 70 Prozent aller technischen Innovationen in Deutschland sind Fraunhofer zufolge mit Werkstoffinnovationen verbunden. Interessant ist auch eine weitere Zahl: Der Materialkostenanteil liegt im verarbeitenden Gewerbe in Deutschland bei 35 bis 55 Prozent. Zum Vergleich: Die Energie bringt es auf lediglich zwei bis acht Prozent. Damit habe die Steigerung der Materialeffizienz eine fast zehn Mal höhere ökonomische Hebelwirkung als die Energieeffizienz.

Deutschland macht zwar eine Menge aus den Rohstoffen, hat selbst aber kaum welche. Deshalb rät Fraunhofer, die Marktmacht rohstofffördernder Länder mit industriepolitischen Interessen im Fertigungsbereich nicht aus den Augen zu verlieren. Perspektivisch führe dies zu steigenden Einkaufspreisen für Roh- und Werkstoffe. Aus dem Produktivitätswettbewerb könne gar ein Einkaufswettbewerb entstehen. „Damit werden Materialeffizienz und Substitutionsoptionen zu einem strategischen Optionsgut“, so ein Fazit des Positionspapiers.

Technologietrends pushen die Werkstoffe

Eine sehr volatile Preisentwicklung konstatiert Dr. Ernst Osen, Vizepräsident Technologie und Innovation beim Dichtungsspezialisten Freudenberg Sealing Technologies (FST): „Der Markt ist stark von gesetzlichen Vorgaben und der Verfügbarkeit von natürlichen Rohstoffen geprägt.“ Er rechnet dennoch in naher Zukunft mit einer wirtschaftlich starken Entwicklung der Werkstoffe. Der Grund: „In vielen Industrien halten neue Technologien und Trends Einzug.“

Einen weiteren Treiber bildet für den Fachverband für Mikrotechnik IVAM die digitale Transformation. Geschäftsführer Dr. Thomas Dietrich setzt auf die hierfür notwendigen Sensoren oder Aktuatoren, „ohne die eine Digitalisierung gar nicht möglich wäre“. Neue Produkte und Technologien für die Digitalisierung seien in der Pipeline, für die innovative Werkstoffe benötigt würden. „Sie helfen, die Anwendungen robuster und zuverlässiger zu machen.“ Nach Meinung von Dr. Wolfgang Seeliger, Geschäftsführer der baden-württembergischen Leichtbau BW, läuft die Phase der reinen Materialsubstitution aus: „Konzeptleichtbau und Multi-Material-Design werden in Zukunft an Bedeutung gewinnen.“ Auch Hochleistungsstähle, hochfeste Aluminiumlegierungen und Magnesium würden, abhängig von Stückzahlen und Produktpreis, künftig stärker gefragt sein.

Ressourcen-, Wartungs- und Energieeffizienz im Fokus

Kabel mit Elektronenstrahlen beschossen,
Leitungen im Freien sind besonderen Belastungen ausgesetzt. Als wirkungsvoll für ihren Schutz hat sich die Strahlenvernetzung erwiesen. Dabei wird das Kabel mit Elektronenstrahlen beschossen. Die Kunststoffmoleküle absorbieren die Energie der Elektronen und vernetzen sich, das Material wird widerstandsfähiger. (Bild: Lapp-Kabel)

Die 2014 veröffentlichte Studie „Leichtbau – Trends und Zukunftsmärkte und deren Bedeutung für Baden-Württemberg“ liefert Hinweise auf die Leichtbau-Märkte der Zukunft. So werden den kohlefaserverstärkten Kunststoffen (CFK) im Automobilsektor hohe Wachstumsraten von 30 Prozent vorausgesagt – bei jedoch geringer absoluter Marktgröße. Im Massenmarkt rechnet man vor allem in spezialisierten Anwendungsbereichen wie Hochleistungsstahl oder gehärteten Aluminium-Varianten mit Wachstumspotenzial. Auch Magnesium soll bei kleinem Marktvolumen deutlich zulegen.

Für Xperion-Geschäftsführer Christian Koppenberg profitieren gerade die Faserverbundwerkstoffe enorm von den Megatrends Mobilität, Energie und Urbanisierung. Xperion Components ist Spezialist für die Entwicklung und Produktion maßgeschneiderter Bauteile aus Faserverbundwerkstoffen. Leichtbau und Ressourceneffizienz stehen verstärkt im Fokus und sorgen so für weiterhin überproportionales Wachstum bei Hochleistungs-Faserverbundwerkstoffen. Detlef Höhner ist Geschäftsführer des Kunststoffherstellers Murtfeldt. Für ihn ergeben sich ebenfalls aus dem Zwang zur Energieeffizienz neue Anforderungen: „Die Nachfrage nach Werkstoffen mit hohen Gleiteigenschaften wird weiter zunehmen.“ Der Trend, Wartungszeiten für Anlagen weiter zu reduzieren und Laufgeschwindigkeiten zu erhöhen, führe zwangsläufig zu leichteren und festeren Werkstoffen.

Auf einen interessanten Aspekt im internationalen Umfeld macht Dr. Osen von FST aufmerksam: die akademische Forschung für den Kautschuk-Bereich in Deutschland. Sie befindet sich im Rückwärtsgang. „Viele Forschungsressourcen wandern unserer Beobachtung nach in momentan angesagte Bereiche wie Life Sciences ab oder orientieren sich sehr stark anwendungsbezogen. Für eine nachhaltige und langfristige Sicherung der Produktion von Kautschukprodukten in Deutschland sind wir aber auf die akademische Grundlagenforschung angewiesen.“

Weiterentwicklung statt Neues

Transparente Hochleistungskeramik,
Transparente Hochleistungskeramik, wo herkömmliches Glas an seine Grenzen gelangt: Perlucor ist ein hochreiner Werkstoff, der zahlreiche außergewöhnliche mechanische, chemische, thermische sowie optische Eigenschaften aufweist. (Bild: Ceramtec)

Das Material für alle Fälle gibt es nicht, das macht Dr. Seeliger klar: „Multi-Material-Design wird in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Man kann von einem Wettbewerb der Materialiensprechen, um das richtige Material an der richtigen Stelle einzusetzen.“ Auch wenn aus wirtschaftlichen Gründen meist eine Weiterentwicklung bekannter Materialien erfolgt, fordert Seeliger den „Mut, ein Bauteil oder Werkzeug komplett neu zu denken“. Nur so ließen sich wirklich herausragende Verbesserungen erzielen.

Dr. Boris Traber leitet den Bereich Advanced Material Development bei FST. Er nennt als Beispiel, dass zunehmend Metall- durch Thermoplastgehäuse ersetzt würden. Das ermögliche eine einfachere Produktionstechnik: „Das Bindemittel entfällt, dafür steht die Direkthaftung Kunststoff/Elastomer im Fokus, also die 2K-Technologie.“ Murtfeldt-Chef Detlev Höhner sieht eine zunehmende Nachfrage nach spezifischen Modifikationen von Werkstoffen. Nah am Kunden sein, das sei die Voraussetzung, damit „wir die Eigenschaften der Kunststoffe maßgeschneidert nach ihren Wünschen einstellen“ können. So gibt es mittlerweile leitfähige, antibakterielle oder metalldetektierende Kunststoffe und solche mit noch besseren Gleiteigenschaften und höherer Lebensdauer.

Tieftemperaturbereich und Verarbeitungstechniken

Intelligente Dichtungen,
Intelligente Dichtungen: Freudenberg Sealing Technologies forscht an intelligenten Werkstoffen, mit denen Dichtungen neben ihrer eigentlichen Aufgabe – der Vermeidung von Stoffübergängen – auch als Sensoren oder als Aktuatoren eingesetzt werden können. (Bild: FST)

Aber auch die Materialien selbst müssen immer besser werden. Aufgrund gesetzlicher Anforderungen und dem Wunsch der Kunden nach globaler Einsatzfähigkeit steigen die Anforderungen an die Temperaturbeständigkeit der Dichtungsmaterialien insbesondere im Tieftemperaturbereich von bis -40° C. Die Lösung: tieftemperaturresistente Polymere mit neuen Monomerkombinationen.

Bei den Faserverbundwerkstoffen geht es derzeit eher um die Verarbeitungstechniken, wie Xperion-Chef Christian Koppenberg beschreibt. Vor allem die Automobilindustrie verlange nach besserer Reproduzierbarkeit von Faserverbundbauteilen im Großserienmaßstab. Ebenso wird an besseren Fertigungsverfahren geforscht, um aufwendige Zwischenschritte, die heute teilweise noch manuelle Handarbeit erfordern, zu vermeiden oder zu automatisieren. Der Ansatz ist, die Faser vom Fertigungsverfahren direkt ins finale Bauteil einzuarbeiten.

Sich der Digitalisierung stellen

Den Trends Digitalisierung und Industrie 4.0 können sich auch die Werkstoffe nicht entziehen. So sollen zum Beispiel Produkte komfortabel und mobil nutzbar, also tragbar sein. Dr. Dietrich (IVAM), sieht für diese Wearables zunehmend Bedarf an innovativen Lösungen zur Integration von Komponenten. „Besonderes Potenzial liegt dabei in der Integration von drahtloser Sensorik in Textilien, denn diese ermöglicht die einfache Konnektivität mit der Außenwelt.“ Das erfordert neue Materialien wie organische Elektronik, mit der großflächige, biegsame und sogar dehnbare Anwendungen realisierbar sind.

Besonders im Leichtbau werden Werkstoffe bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit ausgenutzt und Funktionen in Bauteile integriert. Die hierfür notwendigen virtuellen Testverfahren seien ohne Digitalisierung und Simulation nicht möglich – und zwar über die ganze Wertschöpfungskette hinweg. Materialkennwerte müssten bereits im Vorfeld ermittelt werden, um sie digital berechenbar zu machen.

Neue Chancen durch die Digitalisierung sieht der Geschäftsführer von SKF Economos, Thomas Deigner, auch für Dichtungswerkstoffe und -lösungen. So könnten sensorisch relevante Eigenschaften in den Werkstoff eingebracht werden. Bedingung: Die bereits guten Eigenschaften der Compounds dürfen sich für die Anwendung nicht verschlechtern. „Es sind Produktdesigns in der Entwicklung, die sensorische Eigenschaften zur Detektion nutzen.“ Ein Beispiel gibt es bereits seit einigen Jahren: eine Dichtungslösung, die magnetisch abfragbar ist. Das eröffnet völlig neue Aufgaben und Dimensionen für Werkstoffe aller Art. aru

Expertenstudie

Potenziale von Hochleistungskeramiken

  • Eine von den Verbänden Deutsche keramische Gesellschaft (DKG), Verband der keramischen Industrie (VKI) und der Deutschen Gesellschaft für Materialkunde (DGM) herausgegebene Expertenstudie behandelt Zukunftsfelder für den Einsatz von Hochleistungskeramiken. Betrachtet werden dabei die Anwendungs- und Technologiefelder Energie, Chemie, Maschinen- und Anlagenbau, Mobilität, Elektrotechnik und Optik, Life Sciences und Querschnittstechnologien. Die Materialien profitieren danach von einem Wachstum in etablierten und neuen Anwendungsgebieten. So lag das weltweite Marktvolumen 2012 bei 46,5 Milliarden Dollar. Prognosen erwarten für 2018 bei einer durchschnittlichen jährlichen Steigerungsrate von 6,18 Prozent einen 68-Milliarden-Dollar-Markt.
  • Deutschland nimmt in der Herstellung von Hochleistungskeramik die führende Position in Europa ein, wie die Statistik des Verbandes der keramischen Industrie (VKI) zeigt. Der Exportanteil für technische Keramik liegt bei rund 61 Prozent. Damit Deutschland weiterhin wettbewerbsfähig bleibt, fordern die Studienmacher eine stärkere Vernetzung zwischen interdisziplinärer Grundlagen- und Vorlaufforschung sowie der anwendungsbezogenen Produkt-und Technologieentwicklung bis hin zur Systemintegration. Das erfordere langfristig orientierte Förderprogramme der öffentlichen Hand.
  • Ein Kernaspekt für eine gemeinsame Innovationsanstrengung von Industrie und Wissenschaft ist unter anderem: Die Weiterentwicklung des Eigenschaft-Mikrostruktur-Verständnisses, um das Leistungspotenzial voll ausschöpfen und neuartige Werkstoffkonzepte zu ermöglichen. Ein weiterer Aspekt: ein keramikgerechtes Design durch Simulation der Bauteilbelastungen des Bauteilverhaltens, Kosten-Nutzen-Bewertung auf Systemebene und für den vollständigen Lebenszyklus sowie die Lebensdauer und Zuverlässigkeitsvorhersage.

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