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Intelligenter Kraftprotz - Ein Formgedächtnisdraht von zwei Millimeter Durchmesser kann 100 Kilogramm anheben. Bei einem Drahtgewicht von 25 g und einem 1,5 Meter langen Draht ist dieses dann das viertausendfache (!) des eigenen Gewichts.

Insbesondere die Formgedächstnislegierungen haben noch Entwicklungsmöglichkeiten im Maschinen- und Anlagenbau, beispielsweise bei der Massenproduktion von kleinen und kostengünstigen Antrieben.

Formgedächtnislegierungen gehören zu der Gruppe der intelligenten Materialien. Diese Legierungen können sich, einmal verformt, an ihre vormalige Gestalt erinnern, wenn ihnen thermische Energie zuführt wird. Das Demonstrationsbeispiel hierzu ist eine Büroklammer aus Drähten dieser Legierung. Wird sie mechanisch verformt, nimmt sie nach dem Erwärmen in einem Wasserbad wieder ihre ursprüngliche Form an. Durch ihre Eigenschaften bieten sich Formgedächtnislegierungen als Querschnittstechnik in vielen Technikdisziplinen an. An ihnen wurden Aktor- und Sensorfunktionen ausgemacht. Insbesondere Legierungen aus den Elementen Nickel und Titan zeigen den Formgedächtniseffekt besonders ausgeprägt. Im Laborjargon werden die Legierungen mit den interessanten Eigenschaften Nitinol genannt.

Zuführen von thermischer Energie
Vom auseinander gerollten Draht zurück zur Büroklammer: Durch das Zuführen von thermischer Energie im Wasserbad verformt sich die Formgedächtnislegierung. (Bild: Zentrum für angewandte Formgedächtnistechnik (ZAF)

Nicht ausgeschöpftes Potenzial

Gefäßimplantate
In der Medizintechnik finden Formgedächtnislegierungen bereits ein breites Anwendungsspektrum zum Beispiel bei Gefäßimplantaten. (Bild: Ruhr Universität Bochum)

In der jüngsten Vergangenheit gab es zu den Metalllegierungen einen Sonderforschungsbereich an der Ruhr-Universität Bochum. Die Bochumer Forscher widmeten sich Formgedächtnislegierungen über zwölf Jahre hinweg in interdisziplinären Teams. Die sogenannte SFB 459 Formgedächtnistechnik hatte vier Themenfelder: werkstoffwissenschaftliche Grundlagen, Herstellung, Anwendung und Industrietransfer zu Formgedächtnislegierungen. Jedoch findet nur in der Medizintechnik der Formgedächtniseffekt bislang eine intensive Anwendung. In anderen technischen Bereichen sind Anwendungen der Formgedächtnistechniken gerade in der Wachstumsphase, die von deutschen Unternehmen nur spärlich genutzt wird. Dabei haben die Legierungen das Potenzial zu einer breiten Anwendung als Querschnittstechnik.

Mit Nitinollegierungen lassen sich leichte geräuschlose Antriebe herstellen, denn die Leistungsfähigkeit von Formgedächtniselementen ist enorm: Ein Formgedächtnisdraht von zwei Millimeter Durchmesser kann beispielsweise eine Last von über 100 kg anheben. Bei einem Drahtgewicht von 25 g und einem 1,5 Meter langen Draht ist dieses dann das 4000-fache des eigenen Gewichtes.

Zwar ist der wissenschaftliche Erkenntnisprozess durch umfangreiche Aktivitäten des Bochumer Sonderforschungsbereiches dank Förderungen mit öffentlichen Mitteln schon weit fortgeschritten, jedoch tun sich die denkenden Metalle trotz der verblüffenden Eigenschaften noch schwer. Der Markt an Medizintechnikprodukten wird bereits von diversen Unternehmen bedient. Gerade im Bereich der Gefäßimplantate sind Formgedächtnislegierungen hervorragend geeignet. Es wird überwiegend ein pseudoelastischer Effekt genutzt, bei dem sich die FGL von selbst nach der Verformung wieder an ihre ursprüngliche Gestalt erinnern.

Kostengünstige Antriebe wären machbar

Im Maschinen- und Anlagenbau liegt das wirtschaftliche Potenzial in der Massenproduktion von kleinen und kostengünstigen Antrieben. So kann eine einfache Konstruktion aus etwas Kunststoff und einem Formgedächtnisdraht in einem Montageschritt zu einem Entriegelungsaktor, beispielsweise für Tankklappen, Spinde oder Geschirrspüler eingesetzt werden. Wird der FGL-Draht elektrisch erwärmt, so zieht er sich zusammen und verformt dabei das Kunststoffgelenk, an dem der Entriegelungskopf montiert ist.

Diese Konstruktion wiegt weniger als zehn Prozent der elektromagnetischen Lösung nach Stand der Technik. Bedenkt man, dass der Elektromagnet in 14 Produktionsschritten montiert werden muss, hingegen das FGL-System in maximal vier, so kann man sich automatisierte Produktionen dieser Komponenten in Deutschland vorstellen. Vielleicht künftiges Potenzial, um Märkte, die Deutschland vor Jahren nach Fernost verloren hat, wieder aus Deutschland heraus zu beliefern.

Jedoch sind zur Produktion reproduzierbarer Eigenschaften die Metalle Nickel und Titan in einem präzisen Verhältnis zu mischen. Hersteller schmelzen daher die Metalle in einem exakt abgemessen Verhältnis zusammen. Hierzu findet der Herstellungsprozess unter Vakuum oder Schutzgasatmosphäre statt, ein diffiziler Prozess; denn schon kleine Abweichungen bei den Verhältnissen der Metalle können zu völlig neuen Eigenschaften führen. Nur etwa zehn Hersteller können dieses bislang leisten.

Für die bislang mangelnde breite Verbreitung in Deutschland als Querschnittstechnik gilt es nun Ursachenforschung zu betreiben: Bisher laden die Eigenschaften bei der Verarbeitung nicht gerade zur günstigen Massenproduktion ein. Zunächst werden hauptsächlich Blöcke aus den relevanten Metalllegierungen gegossen, die dann zu Blechen gewalzt sowie zu Drähten gezogen werden. Für die Herstellung von Produkten sind viele Trial-and-Error-Experimente mit verschiedenen Parametern nötig, damit optimale Ergebnisse erzielt werden.

Noch dominieren individuelle Entwicklungen den Markt. Diese sind gerade für kleine Unternehmen sehr kostenintensiv und setzen Expertenwissen an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Ebene und Anwendungstechnik voraus. Bislang sind standardisierte Antriebe zum Beispiel in Form von Katalogware eher die Ausnahme. Ein weiterer Grund sind die komplexen Eigenschaften und fehlende Simulations- und Auslegungswerkzeuge.

Dem gegenüber stehen herausragende Eigenschaften: Neben dem Memory Effekt ändert sich auch signifikant der elektrische Widerstand bei der Phasen-Umwandlung. Eine Fähigkeit, die Erfinder für Doppelfunktionen nutzen könnten, indem sie die Widerstandsänderung zusätzlich als Sensorfunktion verwenden.

Spannend für Industrie 4.0

Modell eines Tankverschlusses
Modell eines Tankverschlusses aus Formgedächtnisdraht, der den Vorteil einer deutlichen Gewichtsreduktion herausarbeitet. (Bild: Zentrum für angewandte Formgedächtnistechnik (ZAF)

Viele der Entwicklungen außerhalb der Medizintechnik sind noch auf konkrete Anwendungen zugeschnitten und erlauben somit keine Übertragung auf andere Aufgaben. Diese Individualisierungen führen zu einem hohen Kostenniveau, für viele kleinere Unternehmen eine unüberwindbare Hürde.

Dabei liegen auch ökologische Vorteile auf der Hand, denn Antriebe aus Formgedächtnislegierungen arbeiten geräuschlos und emittieren keine elektromagnetische Strahlung. Dies ist sehr bedeutsam für die Elektromobilität: Fällt der Grund-Geräuschpegel des Verbrennungsmotors weg, so hört man in Zukunft jeden noch so kleinen elektrischen Servomotor, der Klima-Klappen steuert. Ein geräuschloser Antrieb auf FGL-Basis ist daher eine interessante Alternative.

Jedoch müssen Automobilzulieferer deren technische Besonderheiten berücksichtigen und oft längliche und schmale, aber in Summe deutlich kleinere Einbauräume für diese Antriebe berücksichtigen. Auch der Ressourceneinsatz ist im Vergleich zu Elektromotoren gering. Dabei besitzen die Antriebe auf Basis der Legierungen von Memory-Metallen ein geringes Gewicht. In Flugzeugen sowie Autos eingebaut, kann so die benötigte Antriebsenergie verringert werden, was im Falle von fossilen Rohstoffen als Treibstoffbasis zu geringeren Kohlendioxidemissionen führen wird.

Das bleibt hängen

Formgedächtnislegierungen

  • Formgedächtnislegierungen können sich, einmal verformt, an ihre Gestalt erinnern, wenn ihnen thermische Energie zuführt wird.
  • An ihnen wurden Aktor- und Sensorfunktionen ausgemacht.
  • Nur in der Medizintechnik findet der Formgedächtniseffekt bislang eine intensive Anwendung. In anderen technischen Bereichen sind Anwendungen der Formgedächtnistechniken gerade in der Wachstumsphase, die leider von deutschen Unternehmen nur spärlich genutzt wird.
  • Dabei haben die Legierungen das Potenzial zu einer breiten Anwendung als Querschnittstechnik.
  • Im Maschinen- und Anlagenbau liegt das wirtschaftliche Potenzial in der Massenproduktion von kleinen und kostengünstigen Antrieben. Mit Nitinollegierungen lassen sich leichte, geräuschlose Antriebe herstellen, denn die Leistungsfähigkeit von Formgedächtniselementen ist enorm: Ein Formgedächtnisdraht von zwei Millimeter Durchmesser kann beispielsweise eine Last von über 100 kg anheben. Bei einem Drahtgewicht von 25 g und einem 1,5 Meter langen Draht ist dieses dann das 4000-fache des eigenen Gewichtes.
  • Eine einfache Konstruktion aus etwas Kunststoff und einem Formgedächtnisdraht kann in einem Montageschritt zu einem Entriegelungsaktor, beispielsweise für Tankklappen, Spinde oder Geschirrspüler eingesetzt werden. Wird der FGL-Draht elektrisch erwärmt, so zieht er sich zusammen und verformt dabei das Kunststoffgelenk, an dem der Entriegelungskopf montiert ist. Diese Konstruktion wiegt weniger als zehn Prozent der elektromagnetischen Lösung nach Stand der Technik. Bedenkt man, dass der Elektromagnet in 14 Produktionsschritten montiert werden muss, hingegen das FGL System in maximal vier, so kann man sich automatisierte Produktionen dieser Komponenten in Deutschland vorstellen.
  • Das Unternehmen FG-Innovation, eine Ausgründung aus der Ruhr-Universität Bochum, beschäftigt sich mit der Einführung von Formgedächtnislegierungen in die Industrie. Es berät Unternehmen bei der Serieneinführungen von Produkten, die FGL- Legierungen verwenden
Formgedächtnislegierungen im Modell
Formgedächtnislegierungen im Modell. (Bild: Zentrum für angewandte Formgedächtnistechnik (ZAF)
Umwandlung der Formgedächtnislegierungen
Die Umwandlung der Formgedächtnislegierungen im Modell. Mithilfe von elektrischer Energie kann ebenfalls eine Verformung induziert werden. (Bild: Zentrum für angewandte Formgedächtnistechnik (ZAF)

Noch ist der Bekanntheitsgrad der Metalle mit den vielfältigen Eigenschaften gering. Hierzu organisierte der Cluster NanoMikroWerkstoffePhotonik. NRW Anfang Mai im nordrhein-westfälischen Remscheid einen Workshop mit Fachvorträgen in den Räumlichkeiten des Zentrums für angewandte Formgedächtnistechnik (ZAF), einem Institut innerhalb der Forschungsgemeinschaft Werkzeuge und Werkstoffe. ZAF-Institutsleiter Dr. Alexander Czechowicz arbeitete in seinem Vortrag Potenziale von der Automobiltechnik bis zur Konsumgüterindustrie heraus.

Zum Beispiel kann sich der Institutsleiter in der Gebäudetechnik Anwendungen in den Bereichen Brandschutzventile, Rauchabzug sowie Klimasteuerung vorstellen. Hierzu stellte der Forscher eine einfache Anwendung vor: „Ein klassisches Beispiel sind Schrumpfhülsen. Wenn zwei Rohrstücke miteinander verbunden werden sollen, kann eine umschließende FGL-Hülse via Verringerung ihres Durchmessers für eine gasdichte Verbindung sorgen.“ Dr. Sven Langebein, beim Bochumer Unternehmen FG-Innovation für Forschung und Entwicklung zuständig, sieht, dass das Material über den elektrischen Widerstand geregelt und überwacht werden kann. Dieses sei gerade im Kontext mit dem Thema Industrie 4.0 eine interessante Eigenschaft, denn so können Antriebe gestellt werden, die sich selber überwachen und regeln. aru

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