Herr Creutzfeldt, erleben Sie das in der Praxis auch so?
Creutzfeldt: Mir schwebt gerade ein technisches Unternehmen vor, dass seit fünf Jahren von der Mutterfirma ständig unter Druck gesetzt wird, seine Ergebnisse zu verbessern. Man sieht da förmlich, dass die Blickwinkel sich sehr stark einengen, die Leute frustriert sind, und in diesem eingeengten Zustand nicht mehr fähig sind, in Erwägung zu ziehen, was sie anders machen können. Die sind ständig unter Druck, etwas Neues zu probieren. Diese Problem herrscht in ganz vielen Unternehmen, dass man denkt, man könnte noch mehr Leistung aus den Leuten rausholen, indem man immer mehr den Druck erhöht, aber das ist im Grunde genau kontraproduktiv, damit stürzt man die Leute systematisch in den Burnout.

Sie sagen, Achtsamkeit hilft dagegen. Was genau ist denn diese Achtsamkeit, Herr Creutzfeldt?
Creutzfeldt: Achtsamkeit ist momentan fast schon eine Art Buzzword, wird aber oft mit Dingen assoziiert, die von Unternehmen nicht als nützlich angesehen werden, wie beispielsweise entschleunigen. So wie wir Achtsamkeit verstehen, geht es nicht um eine Aktivität, sondern um eine Qualität, die ich ins Leben integrieren kann. Genaugenommen sagen wir, ist es die Fähigkeit, im jetzigen Moment urteilsfrei das mitkriegen zu können, was in mir und um mich herum passiert. Und das passiert nur, wenn eine gewisse Ruhe herrscht und zwar eine innere Ruhe. Also, wenn ich nicht ständig damit beschäftigt bin, was in fünf Minuten passieren wird und vor fünf Minuten passiert ist, sondern ich mich wirklich auf das Jetzt fokussieren kann und zwar auf eine einzige Sache. Ich sitze also nicht im Meeting und lese gleichzeitig Mails.

Das klingt aber ganz schön schwierig!
Creutzfeldt: Das Schöne dabei ist, dass die Hirnforschung zeigen konnte, dass das Gehirn so lernfähig und umstrukturierbar ist, dass auch derjenige, der jetzt gerade denkt, oh mein Gott, das krieg ich nie im Leben hin, das innerhalb kurzer Zeit lernen kann.
Welche Vorteile bietet Achtsamkeit denn?
Creutzfeldt: Dadurch, dass man mitkriegt, was um einen herum passiert, trifft man bessere Entscheidungen und man kann effizienter kommunizieren. Gerade gestern gab es einen Artikel, der gezeigt hat, dass bei einer bestimmten Form der Achtsamkeitsmeditation die Fähigkeit, divergent zu denken, deutlich steigt. Man hat mehr Ideen und Alternativen für ein Problem, was natürlich der Lösungsfindung hilft. Dadurch erreicht man Produktivitätssteigerung ohne den Druck zu erhöhen, im Gegenteil: Man erniedrigt den Druck, man kommt in einen Zustand des inneren Gleichgewichts und wird gleichzeitig produktiver. Und erhält eine ganze Reihe weiterer Vorteile im Bereich der körperlichen und mentalen Gesundheit sowie der Leistungsfähigkeit.

Peter Creutzfeld

„Die meisten Leute finden mehr als die für das Achtsamkeitstraining benötigte Zeit, wenn sie das Fernsehen oder das Surfen im Internet reduzieren“, sagt
Peter Creutzfeldt, Gründer von Working in the Zone.

Frau Professor Notebaert, könnten Sie bitte noch mal aus neurowissenschaftlicher Perspektive erläutern, wie Achtsamkeit funktioniert?
Notebaert: Im Gehirn stecken verschiedene Netzwerke, also Sammlungen von Gehirnstrukturen, die alle gerne gleichzeitig aktiv sind. Sie synchronisieren ihre Aktivität. Das wichtigste heißt Default-Mode-Netzwerk. Das ist ein Netzwerk von Gehirnstrukturen, das Informationen von allem, was wir bis jetzt erlebt haben, enthält, mit den zugehörigen Gedanken, Emotionen, Erwartungen. Wenn ich Sie jetzt bitten würde, kurz die Augen zu schließen und Ihre Gedanken zu beobachten, da würde ganz viel kommen. Das Gehirn produziert etwa 70.000 Gedanken am Tag, das ist ungemein viel. Und das Netzwerk versucht ständig aktiv zu sein. Es ist sozusagen unser Autopilot, und wenn dann Informationen reinkommen, versuchen wir das alles mit diesem Default-Mode-Netzwerk zu filtern. Ein anderes Netzwerk, das Direct-Experience-Netzwerk, steht in Verbindung mit unseren Sinnen, also beispielsweise dem Tastsinn, Hören oder Sehen. Wenn ich Sie jetzt bitten würde, eine heiße Tasse Kaffee zu nehmen und den Sinneseindruck auf der Haut wahrzunehmen, können Sie nicht mit anderen Gedanken beschäftigt sein. Das ist das Schöne, dass diese zwei Netzwerke nicht gleichzeitig aktiviert werden können.

Und was bedeutet das konkret?
Notebaert: Das bedeutet, wenn Sie das Direkt-Experience-Netzwerk aktivieren, dann wird das Default-Mode-Netzwerk ausgeschaltet. Und das ist genau das, was man in Mindfulness-Sitzungen macht, indem man Sinneseindrücke beobachtet. Wenn Sie dann spüren, dass das ungemein dominante Default-Mode-Netzwerk Ihre Gedanken wieder aktiviert, was so kommen wird und auch so sein soll, dann akzeptieren Sie das und versuchen Sie wieder zum Sinneseindruck zurückzukommen.

Inwiefern verhindert das Default-Mode-Netzwerk Kreativität?
Notebaert: Wenn das Default-Mode-Netzwerk ständig aktiv ist, kann man nicht erwarten, dass etwas Neues entsteht. Ideen sind dann eine Kombination von Sachen, die man schon weiß. Mit Mindfulness kann man das Default-Mode-Netzwerk besser beobachten und man ist in der Lage, neue Dinge zu sehen, weil nicht alles gleich durch das Default-Mode-Netzwerk gefiltert wird.

Und wie lange muss man üben?
Notebaert: Das unglaublich Schöne an Achtsamkeit ist, dass die Amygdala schon kleiner werden, wenn man nur acht Wochen etwa 20 Minuten pro Tag übt.

Wenn ich kreativ werden will, muss ich achtsamer sein und das Default-Mode-Netzwerk ausschalten, oder?
Notebaert: Genau, und nicht nur ausschalten. Wenn Sie das selbst versuchen, dann werden sie spüren, dass es ungemein schwer ist. Das ist so, weil das Default-Mode-Netzwerk sehr aktiv ist, aber Mindfulness bedeutet auch, dass man sich darüber bewusst wird.

Es ist schade, dass das die Unternehmen nicht wissen. Denn hierin läge ja der Schlüssel, für Wissensarbeiter eine Umgebung zu schaffen, in der sie kreativer werden können, oder?
Creutzfeldt: Ja, aber es wird in den Unternehmen immer mehr bekannt. Dieser Ansatz ist ja völlig ungewohnt, wir sagen in unserem Buch: Es ist wie in der Revolution – das ist ein natürlicher Ansatz, an Dinge ranzugehen, aber wir haben ihn quasi kollektiv vergessen. Normalerweise sind wir ständig mit irgendetwas beschäftigt, und nehmen uns nie die Zeit zu sagen: Ich bin jetzt mal mit meinen ganzen Sinnen einfach nur für einen Moment gegenwärtig.
Außerdem meint man, man muss an die Zukunft denken, Szenarien entwerfen, Wirkungen abschätzen, und die Vergangenheit analysieren. Es ist sehr ungewohnt und kontraintuitiv, wenn man Leuten sagt: Schließ‘ mal die Augen und hör‘ mal nur fünf Minuten auf alles, was um dich herum hörbar ist.

Aber wenn man sich einlässt, …
Creutzfeldt: … dann kann man auf sehr viele Arten davon profitieren. Man kann zum Beispiel diese Hörübung, die ich gerade beschrieben habe, im Meeting oder in einem Gespräch auf einer höheren Stufe anwenden. Denn es geht uns ja nicht darum, dass wir unseren Atem und unsere Sinne beobachten. Das sind sozusagen die Trainingseinheiten, die man zu Hause absolviert. Worum es uns geht, ist die Qualität die man dort lernt, wenn man jeden Tag eine Viertelstunde lang eine von diesen Übungen macht.

Und wie sähe die übertragene Qualität aus?
Creutzfeldt: Beispielsweise, dass  ich, wenn ich jemandem zuhöre, überhaupt mal darauf achte, ob ich wirklich bei der anderen Person bin oder ob ich ständig an irgendetwas anderes denke.

Und wie können die Unternehmen davon profitieren?
Notebaert: Was für das Gehirn aus neurowissenschaftlicher Perspektive ein sehr wichtiger Vorteil ist, wenn man Mindfulness regelmäßig trainiert, ist die Tatsache, dass auch der Präfrontalkortex viel stärker wird. Das ist die Struktur, die für Exekutiv-Funktionen und emotionale Regulationen wichtig ist.
Wenn man also Mindfulness ins Leben einbaut, steht einem hier viel mehr Kapazität zur Verfügung. Das bedeutet natürlich auch, dass all die anderen Modelle, die in einem Unternehmen benutzt werden, beispielsweise Zeit-Management, viel größere Effekte haben – einfach, weil die Basis, die man dafür braucht, viel stärker ist.

Das Interview führte Angela Unger, Redaktion

 

Who is who: Dr. Karolien Notebaert und Peter Creutzfeldt

Dr. Karolien Notebaert ist Inhaberin von One Step Ahead – Notebaert Consulting, einem Unternehmen, das die neuesten Erkenntnisse aus der Hirnforschung für Unternehmen und Individuen praxisnah nutzbar macht.  Sie greift in ihren Führungskrafttrainings auf ihre Leidenschaft für die Neurowissenschaft und ihre Expertise auf diesem Gebiet zurück, um den Teilnehmern kraftvolle und inspirierende Einblicke in ihr tägliches Verhalten und ihre Entscheidungsfindung zu geben, um so ihr Potenzial maximal auszuschöpfen.

Peter Creutzfeldt ist Gründer und Inhaber von Working in the Zone und bietet damit Hochleistungscoaching an. Er hat seit 35 Jahren Erfahrung mit Mindfulness und Meditation, arbeitet heute vornehmlich für internationale Industrieunternehmen und begleitet in seinen Entwicklungsprojekten in Hochleistungsunternehmen im Jahr an die 1000 Führungskräfte als Coach, in Teamentwicklungsmaßnahmen und im Mindful Leadership.

Im April 2015 erscheint von den beiden das Buch „Wie das Gehirn Spitzenleistung bringt: Mehr Erfolg durch Achtsamkeit – Methoden und Beispiele für den Berufsalltag“ im Verlag Frankfurter Allgemeine Buch, 224 S., gebunden, 24,90 Euro.

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