Begeisterung
Reicht Begeisterung aus, wenn man seinen Lebenstraum verwirklichen will?

Es war schwer abzusehen, wann das System so weit entwickelt war, dass er einen neuen Live-Test versuchen konnte. Dafür gab es verschiedene Gründe. Die Programmierung der Algorithmen für die Sentiment-Analyse gestaltete sich schwieriger als gehofft, denn die Auswertung der Kriterien, die die Stimmung eines Anrufers beeinflussten, war extrem komplex.

Sein führender Entwickler hatte sich von einem anderen Startup, das mit seinem Predictive Maintenance Tool angeblich gerade den vielbeschworenen Hockeystick hochkatapultiert wurde, abwerben lassen. Und er suchte immer noch nach einem System, um die enorme Menge an Wissen strukturiert bereit zu stellen, damit im Notfall schnell darauf zugegriffen werden konnte. Die Fähigkeiten und Erfahrungen aller Rettungskräfte waren über viele Dokumente und Einsatzberichte verstreut. Das aktuelle Spracherkennungssystem setzte auf das Open-Source-Programm  eines IT-Konzerns, der eine cloudbasierte Variante anbot. Diese hatte sich problemlos in den Entwicklungsprozess mit den ebenfalls in der Cloud liegenden Datenspeichern integrieren lassen. Allerdings fehlten ihm jede Menge Stimmmuster zur Auswertung.

Seine Ausgangslage war mehr als prekär. Er brauchte Geld. Dringend. Er hatte alle abgeklappert, die er kannte. Familie, Freunde, Freunde von Freunden. Jeden in der Startup-Szene, der ihm eventuell Zugang zu weiteren Geldgebern verschaffen konnte. Doch vergeblich. Seine Idee wurde zwar hoch gelobt, war jedoch nicht kurzfristig skalierbar und dafür gab es gerade kein Geld. Alle waren in Goldgräberstimmung und wollten das nächste Unicorn finden, um schnell Kasse zu machen. Dabei hätte sein System tatsächlich das Zeug dazu. Sein letzter Strohhalm war eine Studienkollegin, die nach dem Besuch des Burning Man Festivals in der neuen Steueroase Nevada hängen geblieben war und die ihm dort ein paar Türen öffnen wollte. Maxine, von allen nur Max genannt, arbeitete für eines der schillernden Startups in Las Vegas, die sich intensiv mit maschinellem Lernen und natürlicher Spracherkennung beschäftigten, um Autos das selbständige Fahren beizubringen. Benedikt hatte seine letzten Reserven zusammengekratzt und mit den verbliebenen Meilen seiner Frequent Traveller Card einen Flug nach Sin City gebucht.

Schon beim Abflug in München schien ihm die Glücksfee den Rücken zuzukehren. Sein Flug war ersatzlos gestrichen worden. Alle Passagiere der ausgebuchten Maschine wurden an vollkommen überlasteten Schaltern auf andere Flüge verteilt. Nachdem er einen Tag später in Las Vegas gelandet war, musste er feststellen, dass es sein Koffer nicht geschafft hatte. Wenigstens hatte er in seinem Handgepäck neben Laptop und Ladekabeln ein Notfall-Set. Es gab Schlimmeres, dachte er und ließ sich von der guten Laune eines deutschen Paars, das neben ihm Vorfreude auf die glitzernde Stadt der Spieltische versprühte, anstecken. Als er aus dem Flughafen ins Freie ging, schlug ihm die trockene Mittagshitze entgegen. Doch die unzählig sprießenden Schweißtropfen verdampften sofort wieder im eisigen Gebläse des Shuttle-Busses und ließen eine dünne Salzschicht zurück. Das gleiche Wechselbad ereignete sich bei seiner Ankunft im Hotel. Erschöpft und fröstelnd ließ er sich im Zimmer auf das Bett fallen. Wenigstens ein Traum war wahr geworden, als er die überdimensionale Gitarre gesehen hatte und auf dem Weg zum Aufzug an Glasvitrinen mit unzähligen Exponaten seiner persönlichen Helden vorbeigegangen war. Denn Benedikt war nicht nur Firmengründer und IT-Spezialist, er war auch leidenschaftlicher Gitarrist einer Rockband.

 

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